Wir sind unsichtbar
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Blog (Februar 2021)
Unlängst sagte ein Jugendlicher: "Ich will ja nichts Großartiges, aber wenigstens einmal in der Woche zum Training oder ins Jugendtreff gehen, wäre schon schön. Dann könnte ich auch meine Freunde treffen und mal abschalten. Sonst halte ich mich eh an die Regeln, müssen wir ja. Aber mir fällt die Decke auf den Kopf."
Dieses "Müssen wir ja" ist ein oft gehörter Satz. Aber es geht nicht um den Wortlaut, sondern darum, wie es gesagt wird. Voller Lethargie, und dieses Gefühl beherrscht viele Jugendliche. "Wir müssen ja" ... "Wir haben eh nichts zu melden" ... "Uns fragt man sowieso nicht, als wären wir unsichtbar". Was hat das für Folgen?
Jugendliche, die sich zurückziehen
Denen die Perspektive fehlt. Deren Träume zerplatzen. Die gerade die Schule gewechselt haben und kaum angefangen, sind sie über Wochen zuhause. Ohne, dass sie Anschluss gefunden haben bzw. Schulfreunde. Ohne die Möglichkeit, sich an die neue Situation zu gewöhnen, müssen sie sich gleichzeitig mit einer anderen, nie dagewesenen, auseinandersetzen.
Zwei tiefe Einschnitte in ihrem Leben, das sich von heute auf morgen komplett geändert hat.
Neben allen anderen Folgen kommen natürlich auch Unsicherheiten auf. Ist die Schule wirklich etwas für mich? Was habe ich überhaupt für Perspektiven? Wie wird die Zukunft aussehen? Ein Schuldenberg an Gefühlen, den wir ihnen auferlegen, aber auch ein Schuldenberg im wahrsten Sinne des Wortes, worüber sich die Jugendlichen ebenfalls Gedanken machen.
Hinzu kommt ein herausforderndes Schuljahr. Auch Überforderung mit Arbeitsaufträgen, fehlende Erfolgserlebnisse und anderes kommen hinzu. Fakt ist, dass die Zahl der Schulabbrecher gestiegen ist.
Struktur ist das A und O
Was wir kennen, gibt uns Sicherheit. Was wir nicht kennen bzw. nicht einschätzen können, verunsichert logischerweise. Das betrifft auch uns Erwachsene, aber wir verfügen im Gegensatz zur Jugend über Erfahrungen in Sachen Krisen. Doch auch für viele von uns ist diese Krise schwierig zu bewältigen. Hinzu kommen Aspekte wie Arbeitslosigkeit, Zukunfts- oder Existenzängste, dass die Kinder zuhause sind u.v.m.;
Man soll allem gerecht werden, aber das ist kaum möglich. Irgendetwas bleibt immer auf der Strecke. Ferner spüren Jugendliche mehr als wir denken, ziehen sich vielleicht auch zurück, weil sie uns nicht zusätzlich belasten wollen.
Viele fallen in diese erwähnte Lethargie. Jeden Tag ein bisschen mehr. "Seitdem ich so viel zuhause bin, denke ich viel zu viel nach", erzählt uns eine Jugendliche. "Ich weiß langsam nicht mehr, was richtig oder falsch ist und habe totale Zukunftsangst. Außerdem komme ich in der Schule nicht mehr mit. Ich traue mich nicht zu fragen, wenn ich etwas nicht weiß. Irgendwie habe ich das Lernen verlernt."
Wer das Gefühl hat, ständig auf derselben Stelle zu treten, beginnt an sich und seinen Fähigkeiten zu zweifeln und wenn Erfolgserlebnisse ausbleiben, kratzt das am Selbstwert. Hinzu kommt eine Stigmatisierung, die nicht in Ordnung ist!
Potentielle Gefährder
"Ich selbst habe keine Angst vor Corona, wir erkranken ja nicht schwer, aber ich habe Angst, dass meine Oma meinetwegen sterben könnte!", hören wir nicht nur einmal in verschiedenen Zusammenhängen. Ist das nicht schlimm, wenn sich Jugendliche als "Gefährder" sehen? Was macht das psychisch mit einem? Hier wird dieser Generation eine Zentnerlast auf die schmalen Schultern gelegt!
Zumal es oft diese Generation ist, der man vorwirft, sich nicht an Regeln zu halten. Wir haben jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass man mit Jugendlichen tolle und konstruktive Gespräche führen kann. Dass sie offen sind und mehr verstehen, als wir denken. Doch das Grundelement dafür ist, dass man sie ernst nimmt und ihnen nicht das Gefühl gibt, dass sie nach unseren Wünschen funktionieren müssen. Wir können nicht ÜBER sie reden, wenn wir nie MIT ihnen reden.
Vermehrte Gewalt in Familien
Auch das ist ein Aspekt, den man nicht beiseite wischen kann und schon gar nicht darf. Nicht alle Kinder haben ein sicheres stabiles Zuhause oder Eltern, die hineinhorchen, reflektieren und sich mit ihnen auseinandersetzen. Und kommt persönlicher Stress hinzu, kann die Lage oftmals eskalieren.
Das passiert nun im Verborgenen. Als JT-Betreuer fehlt schlichtweg der Face-to-Face-Kontakt. Manchmal sieht man einem Jugendlichen an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Manchmal lässt die Art und Weise des Auftretens darauf schließen oder der Jugendliche selbst spricht das Thema an. Das setzt aber Vertrauen voraus, das jedoch aufgrund monatelanger Schließungen verloren geht. So gesehen erleben wir auch in Sachen Vertrauen einen totalen Lockdown!
Hilfe nach Terminkalender, sorry, das funktioniert nicht!
Wenn ein Jugendlicher reden möchte, dann will er das JETZT tun! Jetzt, wo er den Mut dazu hat. Jetzt, nachdem er mit sich gerungen hat. Termine sind hier - zumindest unserer Erfahrung nach - kontraproduktiv. Eine Stunde später hat es sich der Jugendliche vielleicht schon wieder überlegt. Doch er fühlt sich zu recht von allen im Stich gelassen.
Wir haben das anders gelöst, in dem wir zusätzlich eine Notfallnummer eingerichtet haben, mit der wir rund um die Uhr erreichbar sind. Auch während der Weihnachtstage war dies der Fall und diese Nummer bleibt bestehen. Jetzt mehr denn je, da es viel aufzuarbeiten gibt und sich bei vielen Jugendlichen die Folgen erst mit der Zeit zeigen werden.
Unsere Arbeit
Wir sehen uns als vieles, aber nicht in der Rolle derer, die Jugendlichen verbieten müssen, sich vor dem Jugendtreff aufzuhalten. Gerade jetzt ist vermehrt zu beobachten, dass sie die Nähe suchen, aber sie dürfen sich nicht vor dem JT versammeln. Man schickt sie also fort. Verweigert ihnen diese Nähe und das hinterlässt nicht nur ein schlechtes Gefühl auf beiden Seiten, sondern auch seine Spuren.
Dasselbe gilt für den reglementierten bzw. eingeschränkten Zugang, wie es ebenfalls zeitweise der Fall war/ist. Mag es bekannt sein, dass nur eine gewisse Zahl mit Terminvergabe den JT besuchen darf, es kommen doch immer wieder zusätzlich welche. Und sei es wiederum nur, um vor dem JT zu sitzen. Aber das ist wie erwähnt nicht erlaubt. Da fragt man sich ernsthaft, wo haben Jugendliche noch Platz? Man fragt sich auch persönlich, ob das die Art der Arbeit ist, die man machen möchte. Es belastet auf Dauer, sich als verlängerter Arm von Strategien zu sehen, die nicht funktionieren.
Haben wir eigentlich eine Stimme?
Im Grunde fühlen wir uns in dieselbe Ecke gedrängt. Jugendtreffs/Zentren werden in den wenigsten Zusammenhängen erwähnt, sie scheinen in den letzten Monaten kaum existent zu sein. Wir fragen uns oft, warum man uns nicht von Anfang an mit eingebunden hat. Z.B. beim ersten Lockdown, als es darum ging, dass Schulen mitunter Jugendliche nicht erreichen, hätte man uns unterstützend zu den Schulen sinnvoll integrieren können. Natürlich haben wir in Eigenregie entsprechend gehandelt, doch ein Miteinander wäre hier wünschenswert gewesen.
Ferner ist es für uns unverständlich, weshalb sich Jugendliche nicht weiterhin bei uns treffen durften/dürfen. Und wenn es nur zwei Freundinnen sind, die einfach mal andere Wände als die eigenen in ihrem Zimmer sehen wollen. Solche Treffen hätten selbstverständlich mit allen erforderlichen Maßnahmen erfolgen können. Lieber kontrolliert als unkontrolliert, und dass es zu heimlichen Treffen kommt, ist klar. Darin sind wir Erwachsenen jedoch nicht besser, im Gegenteil. Man muss sich nur diverse Medienberichte ansehen. Jugendpartys sind da eher seltener an der Tagesordnung als Hochzeiten, Geburtstagsfeiern, und, und, und ...
Doch selbst jetzt, da die Schülerinnen und Schüler getestet werden, ändert sich an den Regeln nichts. Wieso dürfen getestete Jugendliche nicht am selben Tag zu ihrem Verein oder in den Jugendtreff?
Und ja, wir finden, dass Kindern und Jugendlichen ein Jahr gestohlen worden ist. Ein Jahr, in dem sie aktiv am Leben hätten teilnehmen können. Ein Jahr, in dem sie zur Schule gegangen wären. Ein Jahr, in dem sie zum ersten Mal ausgehen hätten dürfen. Ein Jahr, um neue Freunde kennenzulernen und mit ihnen abzuhängen. Ein Jahr, um ihre Freizeit nach eigenem Belieben zu gestalten. Ein Jahr, um in den Vereinen Sport zu machen. Ein Jahr, um einfach nur Kind & Jugendlicher zu sein. Stattdessen mussten sie funktionieren, sich fügen und mitunter schneller erwachsen werden, als es gesund für sie ist. Von persönlichen Schicksalen ganz abgesehen, da diese Zeit für einige auch mit körperlicher und psychischer Gewalt einherging/einhergeht.
Machtlosigkeit mündet in Zorn
Geben wir doch der Jugend endlich eine Stimme. Hören wir uns an, was sie zu sagen haben. Fühlen wir uns in ihre Gedankenwelt hinein und lassen wir sie vor allem auch endlich mitreden und mitbestimmen. Im Grunde werden sie seit Monaten einem politischen Monolog ausgesetzt. Wer wäre nicht sauer, wenn er sich nur Dinge anhören, aber nicht selbst etwas dazu sagen darf. Zumal ...
Pressekonferenzen am laufenden Band
Man stelle sich einen Kochtopf vor, in den nur schlechte Zutaten geworfen werden. Tag für Tag, Woche für Woche. Da kann nichts Gutes dabei rauskommen. Statt ständig schwarzzumalen, zu sanktionieren und davon zu reden, dass "es noch lange nicht ausgestanden ist", sollten endlich auch positive Perspektiven geschaffen werden. Das gilt übrigens für uns alle.
Nichts ist schlimmer als Schwarzmalerei. Natürlich mag die Lage ernst sein, natürlich soll kein einziger Mensch gefährdet werden, von überforderten Krankenhäusern ganz zu schweigen und wir ziehen den Hut vor vielen Berufsgruppen, die sich Tag für Tag für uns alle einsetzen, aber die Waagschale hängt bedenklich schief. Das Gewicht "der Folgen, negativen Zukunftsvisionen & der Eingriff in die persönliche Freiheit" zieht pausenlos nach unten, während die andere Waagschale leerbleibt. Jede Negativität braucht ein Pendant, gerade in jungem Alter. Denn wenn schon die Erwachsenen alles düster sehen, wenn es nur Verbote und Sanktionen gibt, sogar Strafen, dann macht das Angst. Einfach nur Angst!
Lost Generation
Auch ein Begriff, der um sich greift und ebenfalls nichts Positives birgt. Zeugnisse oder die Matura sind im Grunde nichts wert, hört man allerorts. Wir finden, dass das Gegenteil der Fall ist. Mag sein, dass in diesem Jahr der vorgegebene Schulstoff nicht im vorgegebenen Zeitrahmen durchgenommen werden konnte, aber viele haben sich bemüht, dem gerecht zu werden. Ob Schülerinnen und Schüler oder Lehrpersonen. Man sollte - um beim selben Bild zu bleiben - den Schulstoff in die eine Waagschale legen, die schwierigen Rahmenbedingungen in die andere. Hier haben sehr viele sehr viel geleistet! Also sprechen wir bitte nicht ständig über negative Dinge, sondern über die vielen positiven, die unsere Jugend in diesem einen Jahr toll bewältigt hat.
Fazit
Isolation kann nicht die Antwort auf diese Pandemie sein. Das Ignorieren dieser Generation genauso wenig. Wir sagen doch immer so schön: "Unsere Kinder sind die Zukunft von morgen". Aber welche Zukunft vermitteln wir ihnen? Welches Gefühl geben wir der Jugend?
Im Grunde haben alle Generationen am Straßenrand gestanden, sind in den politischen Bus eingestiegen, aber als dieser weitergefahren ist, blieben die Jugendlichen zurück. Man hat es bislang versäumt, sie abzuholen. Dabei hätten wir mit Schulen, Vereinen, Jugendtreffs usw. sehr viele Ressourcen im Land, um einiges zu kompensieren. Aber das setzt Vertrauen voraus. Auch in uns und unsere Arbeit, denn Tatsache ist, dass wir nicht so für die Jugendlichen da sein können. wie es wichtig und richtig wäre. Zumal diese Generation der Inhalt unseres Berufes ist. Ein Beruf, der zeitweise einen schalen Beigeschmack hat.
​Was interessiert mich das Geschwätz von gestern?
Vor nicht allzu langer Zeit wurde ständig gewarnt, dass die Jugendlichen zu viel in der "virtuellen Welt" sind. Dass sie sich immer weniger bewegen, kaum Sport machen oder sich draußen aufhalten. Sie kapseln sich ab, zocken stundenlang ... und jetzt?
Es wird in Kauf genommen. Was die Pandemie alles verändert hat ...
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Nochmal: Jugendliche brauchen klare Strukturen. Nicht heute hü und morgen hott. Denn sobald die Pandemie halbwegs im Griff ist, werden wir ihnen wieder nahelegen, dass ein Übermaß an Internet & Co nicht gut ist. Wir schicken sie also von einem Hafen zum anderen. Sobald sie angelegt haben, müssen sie wieder aufbrechen, weil es der falsche Hafen war. Und dann wundern wir uns, wenn viele Schiffbruch erleiden!
Was wir wollen?
Wir möchten die Jugend dort abholen, wo man sie stehengelassen hat. Wir wollen für sie da sein, die Zeit mit ihnen gemeinsam aufarbeiten, ihnen Mut machen und ihnen dabei helfen, die Zukunft wieder in bunten Farben zu sehen. Ja, wir möchten ihnen etwas von der Leichtigkeit zurückgeben, die sie verloren haben. Denn sie wollen leben und die Welt entdecken. Freunde treffen, Spaß haben und diese Zeit genießen. Wer das nicht versteht und ständig damit argumentiert, dass "es doch drin sein müsste, dass sie zurückstecken im Sinne der allgemeinen Gesundheit" hat seine eigene Jugend scheinbar vergessen!
Zumal wir uns die Entwicklung ansehen müssen: Depression, Einsamkeit, Lethargie, Selbstverletzung, Suizidgedanken ... soll das wirklich unsere Antwort auf die Pandemie sein? Gilt es nicht jedes Leben zu schützen?
Treffs, Vereine bis hin zu den Schulen - es gibt wie erwähnt viele Ressourcen in Österreich. Statt immer wieder diese Türen zu schließen, sollten wir sie offenhalten und Kräfte bündeln. Auch, um für unsere Jugend vertraute Orte zu bleiben, die ihnen Struktur und Sicherheit geben. Etwas mehr Vertrauen in uns alle würde einen viel positiveren Aspekt nach sich ziehen. Ein "Wir-Gefühl" entsteht nämlich nicht durch ständige Ich-Anweisungen. Ein "Wir-Gefühl" entsteht durch ein "WIR".
Ergo: Ein Puzzle besteht nicht nur aus einem Teil, sondern aus vielen weiteren, damit letztendlich ein Bild für alle daraus werden kann!
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